Schon das Öffnen der geheimnisvoll schwarzen Verpackung fördert die erste Überraschung zutage: Neben den drei Disketten und der etwas knappen Anleitung findet man einen offiziellen Stadtplan von Singapore, einen entsprechenden Reiseprospekt, eine Ansichtskarte mit Pekingenten und zwei sehr hübsche Eßstäbchen. Wer nun glaubt, die Beigaben wären unnütze Gimmicks (oder gar nur Schleichwerbung für ein Reiseburö), der irrt: Ohne diese Dinge ist das Spiel nicht zu lösen, im Gegenzug hat man auf Kopierschutz oder Paßwortabfrage verzichtet. Während ich noch meine Fingerhaltung beim Stäbchen-Essen trainiere, hat der Amiga schon das Game geladen und überrascht mich mit dem ersten Grafik-Genuß: Das Titelbild zeigt die Skyline von Singapore in herrlicher Abendstimmung - welch eine Wohltat, einmal nicht von einem widerlichen Alien begrüßt werden!
Dann wird kurz der geschichtliche Background der Story erläutert, und ich mache zum ersten Mal Bekanntschaft mit der übersichtlichen Menüleiste am rechten Bildschirmrand, jenen zehn Funktionen, die den Spieler durch das Abenteuer geleiten. Alle Möglichkeiten, die momentan offen stehen, sind erleuchtet - also kein langes Ausprobieren erforderlich, ein kurzer Mausklick genügt, und der Spieler kann sich voll auf das Geschehen konzentrieren. Der nächste Screen macht mit den Akteuren bekannt, die in das komplexe Abenteuer verstrickt sind.
Allen voran natürlich der Spieler selbst, der in die Rolle von Taiko, einem jungen Japaner, schlüpft. Als solcher hat er einige Prüfungen zu bestehen, die ihm von seinem Meister abverlangt werden - allerdings geht es hier nicht um die Gesellenprüfung als Feinmechaniker sondern um schwierige Gewissensfragen! Taiko ist nämlich Mitglied eines alten und sehr mächtigen asiatischen Geheimbundes und muß daher stets darauf achten, nach seinem strengen Ehrenkodex zu handeln. Somit beeinflußt auch jede Entscheidung, die während des Spiels getroffen wird, die eigenen Charakterwerte (können jederzeit abgefragt werden). Zu viele Fehlentscheidungen können durchaus dazu führen, daß man sich für die kommenden Aufgaben als unwürdig erwiesen hat!
Aber die Sache wird noch verzwickter: Es werden Geschichten innerhalb der Geschichte erzählt, und nur wenn Taiko gut aufgepaßt hat, kann er bei den abschließenden Prüfungen bestehen. Es geht um Morde, politische Intrigen und internationalen Terrorismus. Doch Vorsicht: Wer sich ganz in die Stories vertieft, läuft Gefahr, wichtige Details zu übersehen, auf die sich die Fragen des Meisters beziehen könnten
Nun versteht PM-Entertainment die Stadt der Löwen nicht als Adventure im herkömmlichen Sinn, weshalb viele Features des aufwendigen Programms dem "normalen" Fan von Abenteuerspielen ungewöhnlich vorkommen werden. Oder habt Ihr schon von einem Game gehört, in dem es originalgetreue Stadtpläne, einen umfangreichen Fremdenführer, ein ausführliches Lexikon und sogar exotische Kochrezepte gibt? Eben! Doch genau in diesem Punkt liegt natürlich die große Stärke des Spiels, es vermittelt eine atmosphärische Dichte, wie man sie praktisch noch nie erlebt hat. Dazu tragen freilich die großartigen Grafiken von Chris Földing-Hornschuh entscheidend bei.
Aber keine Tulpe ohne Spikes, ein bißchen Meckern kann ich mir (wiedermal) nicht verkneifen. Daß man auf Sound-Untermalung komplett verzichtet hat, ist durchaus einzusehen (wäre vermutlich wirklich eher störend), aber die geforderten 120,- Märker sind selbst für ein hochklassiges Spiel wie dieses ziemlich happig. Schön hingegen, daß im Gegensatz zu "Holiday Maker" diesmal menschliche Bedürfnisse wie Arbeit, Essen, Schlafen und ähnliche Unwichtigkeiten berücksichtigt wurden, und man endlich eine Save-Function eingebaut hat.
Stadt der Löwen ist ein Programm, das zwar in relativ kurzer Zeit durchspielt werden kann, aber andererseits trotzdem lange Freude bereitet. Denn die gezeigten Bilder sind wirklich echte Kunst, und die erzählte Geschichte läßt an Spannung nichts zu wünschen übrig. Anders gesagt: Computer-Unterhaltung, wie sie leider viel zu selten geboten wird! Übrigens: Was es mit dem doppeldeutigen Untertitel "The Final Singapore Sling" (es gibt einen Drink gleichen Namens) auf sich hat, findet Ihr spätestens gegen Ende der Geschichte heraus. Laßt Euch überraschen! (ml)